Dietramszell ist überall? Und nun? – offener Brief und der Versuch einer Entschuldigung

Assunta Tammelleo

Assunta Tammelleo, stellvertretende Vorsitzende des Bundes für Geistesfreiheit München, hat einen offenen Brief an die Bürgermeisterin Leni Gröbmaier der Gemeinde Dietramszell geschrieben.
  

Hindergrund ist, an einer Mauer des Klosters der Salesianer in Dietramszell war seit 1939 der Bronzekopf des Generalfeldmarschalls des Kaiserreichs Paul Ludwig von Hindenburg angebracht. Hindenburg war nicht nur ein Offizier, der Millionen Menchen im ersten Weltkrieg in den Tod schickte, 1925 wurde er Reichspräsident der Weimarer Republik und berief am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler. 2014 schraubte der Aktionskünstler Wolfram Kastner die Büste ab.
Zuvor hatte der Künstler die Gemeinde darauf hingewiesen, dass es nicht sein kann, dass einer der Steigbügelhalter Hitlers heutzutage noch mit einer Bronzebüste geehrt wird. Als die Gemeinde der Bitte Kastners nicht entsprechen wollte, die Büste abzunehmen bzw. angemessen damit umzugehen, schraubte er mit zwei Kollegen den Kopf von der Klostermauer ab. Auf einer Faschingveranstaltung zeigten daraufhin einige Dietramszeller, dass sie weder über Geschichtsbewusstsein noch Verantwortungsgefühl verfügen. Aufgebaut war dort eine Strohpuppe an einem Galgen mit der Aufschrift „Aktionskünstler – obacht gem!!!“, was man durchaus als handfeste Drohung verstehen kann.
 
Bis heute ist nicht klar, wie es mit der Büste, die nicht wieder angebracht wurde, weiter geht. Die Gemeinde Dietramszell möchte aber einen Themen-Geschichtspfad einrichten, der auch über Hindenburg informieren soll, und hatte dafür zu einer öffentlichen Informationsveranstaltung am 30. November 2019 eingeladen. Assunta Tammelleo war zusammen mit Wolfram Kastner dabei und hat daraufhin folgendes Schreiben an die Dietramszeller Bürgermeisterin Leni Gröbmaier verfasst:
  
„Dietramszell ist überall und Hindenburg (vielleicht gar Hitler?; Anm. Verfasserin) lauert an jeder Ecke“ – diese Feststellung ist wohl das ignorante und nichtssagende Resümee, das die Veranstalter um Bürgermeisterin Leni Gröbmaier nach dem ca. 4-stündigen Symposium (zum Umgang mit Hindenburg, vielleicht gar Hitler und der jüngeren Vergangenheit) am Ende des 31.November 2019 aus den Vorträgen der gesammelten Experten im Dietramszeller Gasthaus Peiß zu ziehen geneigt waren. Will in erster Linie heißen: erst mal machen wir hier in Zell gar nichts, haben dabei nicht mal ein schlechtes Gewissen, denn die anderen Gemeinden sind auch nicht besser gewesen, vielleicht sogar noch schlimmer, nicht wahr!? Und nun?
 
„Dietramszell ist überall und die Ignoranz kennt keine Postleitzahl“, das ist der erschütternde Eindruck, den wohl die Gäste von außerhalb Dietramszells eher aus der Veranstaltung mitnahmen (Zitat in freier Anlehnung an ein Zitat von Sigi Zimmerschied in Bezug auf seine Heimatstadt Passau). „Hindenburg lauert an jeder Ecke“ wird der Historiker Dr.Thomas Schlemmer ja richtig zitiert, der damit den Dietramszellern laut Berichterstattung schon mal „ein Stück ihres Selbstbewußtseins“ zurückgeben konnte. Wie darf das gedeutet werden? Es ist allem Anschein wohl nicht dringend geboten, dass man in dieser Gemeinde nach fast 6 (!) Jahren (als der Gemeinderat sich zunächst nicht dazu entschließen konnte, Adolf Hitler, Ehrenbürger seit März 1933, und Paul von Hindenburg die Ehrenbürgerwürde posthum zu entziehen), sich endlich selbstkritisch mit sich und der fehlenden Bearbeitung der eigenen Vergangenheit (74 Jahre nach Kriegsende) auseinander setzt. Kommentar Leni Gröbmaier dazu: „Wir lassen uns Zeit“.
  
Ja wieviel Zeit denn noch, Frau Gröbmaier? Sind die 74 Jahre seit Kriegsende nicht schon genug Zeit gewesen? Und so viel Langmut u.a. vor dem Hintergrund, dass die Landesstatistik (statistik. bayern.de) für Dietramszell schon bei der letzten Bundestagswahl die AfD hinter der CSU als stärkste politische Kraft in der Gemeinde ausweist. Wie soll diese Aussage gedeutet werden?
  
Einigen der mehrheitlich älteren Saalgäste und wohl Gemeindebürgern (jüngere Menschen waren leider kaum vor Ort) beim Symposium ist eine Beschäftigung damit, warum man sich bis 2013 in Dietramszell nicht mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen wollte (und u.a. bis 2014 nach der Entfernung durch Wolfram Kastner über 60 Jahre wohl eher gedankenlos vor Hindenburgs Büste an der Klostermauer vorbei gelaufen ist) an diesem Nachmittag wohl nicht so wichtig. Es ist vor allen Dingen wichtig, dass das Bild der Gemeinde „endlich wieder gerade gerückt wird“. Nach Besuch dieses Symposiums scheint ja in Bezug auf das „rücken“ nur eine Richtung in Frage zu kommen….
 
Als Landkreisbürgerin – nicht wohnhaft in Zell, sondern in Geretsried und später Wolfratshausen, dort aber seit über 30 Jahren (wenn auch zugereist und wenn auch mit deutlichem Migrationshintergrund) – kann ich als Beobachterin nur mit Schrecken auf diesen Symposiums-Nachmittag blicken. Nein, man hat in Dietramszell überhaupt keine ernsthafte Meinung dazu, die jüngste Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten. Ohne von den Veranstaltern/Frau Gröbmaier selber unterbrochen zu werden, darf an dem Symposiumsnachmittag der anwesende Aktionskünstler Wolfram Kastner aus den Reihen der Besucher am Ende des Symposiums ungeniert um Entschuldigung angegangen werden für seine alles in Gang bringende Demontage der Hindenburg-Büste von der Klostermauer, die überhaupt erst eine weitere Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit in Zell auslöste. Die Zeller ihrerseits müssen sich Ihrerseits nicht entschuldigen dafür, dass sie über 60 Jahre, vielleicht gar 74 Jahre untätig gewesen sind? Warum hat es Wolfram Kastner in Zell überhaupt gebraucht? Warum haben sich die Zeller nicht vor Jahren schon selber mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und selber Lehren, einen Geschichtspfad für die Zukunft erarbeitet? Warum hat sich bis heute – nach über 4 Jahren – niemand aus Zell jemals entschuldigt für die unsägliche Entgleisung, den mahnenden pazifistischen Künstler Kastner am Faschingsumzug 2015 mit dem Schild „Aktionskünstler Obacht gem“ symbolisch an einen Galgen zu hängen?
 
Beim Künstler Wolfram Kastner kann ich mich fürs Erste nur mit Nachdruck entschuldigen dafür, was sich in meiner Wahlheimat bzw. in unmittelbarer Nähe davon in Bezug auf die dringend notwendige Bearbeitung der eigenen Vergangenheit zuträgt. Entschuldigen möchte ich mich für dieses kaum vorstellbare Ausmaß an Ignoranz, an Desinteresse an der eigenen Gemeindegeschichte und für die unverhohlenen Drohungen ihm als Person gegenüber.
 
Auch entschuldigen möchte ich mich bei Amelie Fried und Peter Probst, deren Vorträge wir bei der außerordentlichen Gemeinderatssitzung seinerzeit im Humbacher Feuerwehrhaus persönlich gehört hatten.
 
Sogar mein damals 15jähriger Sohn bestätigte dem fragenden Reporter des Bayerischen Rundfunks gegenüber, dass die Wiederholungs-Abstimmung 21:0 im zweiten Anlauf für die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde bei den anwesenden Gemeinderäten im Wesentlichen nicht auf Einsicht in eine Zeichen setzende Notwendigkeit beruht habe, sondern allein dem Druck der Öffentlichkeit und der zahlreichen Anwesenheit der Presse geschuldet gewesen wäre.
 
Amelie Fried und Peter Probst haben aus Protest ihrer Wahlheimat Dietramszell nach diesen Ereignissen den Rücken gekehrt. Was sie wohl damals schon berechtigt befürchten mussten ist spätestens seit dem 31.November 2019, nach dem diesem Symposium, traurige Gewissheit: der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch (nach Bertolt Brecht).
 
Freundliche Grüße
 
Assunta Tammelleo“